Lieblingsbuch Literatur

Es ist ein Mädchen (Camille Laurens)

Laurence wird um das Jahr 1960 im französischen Rouen geboren. Sie ist nicht nur „ein Mädchen“, sondern dazu auch noch „noch ein Mädchen“, die große Schwester gibt es nämlich schon. Wird der Vater, der sich nichts sehnlicher wünscht als einen Sohn, gefragt, ob er Kinder habe, antwortet er: „Nein, ich habe zwei Mädchen“. Laurence wächst in gutbürgerlichen Verhältnissen auf, die Strukturen sind jedoch durchweg patriarchisch. Mit neun wird sie von einem Nachbarn sexuell missbraucht, doch statt diesen zur Rechenschaft zu ziehen, kehrt die Familie den Vorfall stillschweigend unter den Teppich. Immer wieder wird sie mit direkter und indirekter Abwertung konfrontiert, bleiben ihr Räume und Erfahrungen verwehrt, muss sie sich rechtfertigen, stillhalten, abfinden mit den Ungerechtigkeiten des Alltags. Auch als sie ihrer Familie entwächst, das erste Mal etwas wie Freiheit erlebt und selbst Mutter wird, verfolgt sie das, was es heißt ein Mädchen zu sein, immerzu…

Ich durfte Es ist ein Mädchen von Camille Laurens bereits im April lesen und freue mich sehr euch heute endlich von meinen sehr positiven Leseeindrücken berichten zu können. Mit ihrem autofiktionalen Werk ist Camille Laurens ein Buch gelungen, das mich gleichermaßen gefesselt, bewegt und wütend gemacht hat. In einer wundervollen Sprache, die den Balanceakt zwischen treffend, klar und poetisch mit Bravour meistert, erzählt Laurens die sehr persönliche Geschichte einer Frau, die so viel mehr ist als das, nämlich die Geschichte des Frau seins, des Mädchens seins, überhaupt. Die Erfahrungen, bei denen man Laurence als Leser begleitet, sind Mal drastisch und erschüttert, dann wieder leise und manchmal gar mit feinem Humor gespickt. Die Misogynie jedoch bleibt ein roter Faden, der sich in allen möglichen Facetten und Kontexten zeigt. Laurences Entwicklung innerhalb jener Gesellschaft, die Frauen damals, und heute noch, strukturell benachteiligt fand ich sowohl spannend als auch glaubhaft. Ebenfalls gefallen haben mir die Perspektivwechsel, die an diese Entwicklung gewissermaßen anknüpfen. Für mich ein ganz starkes Buch, das nicht nur so viel Wahres und Wichtiges enthält, sondern sich außerdem wunderschön und unterhaltsam liest. Es lohnt sich.